„The Incel Rebellion has already begun!“ – Zur Frage, ob Incels Terroristen sind und was zu tun ist

Am 19. Mai 2020 wird ein 17-jähriger Jugendlicher in Toronto, Kanada, des Terrorismus angeklagt – zusätzlich zum Mord an der 24-jährigen Ashley Noelle Arzaga. Der Attentäter hat Arzaga in einem Massagesalon erstochen, zwei weitere Personen wurden verletzt. Bereits kurz nach der Tat stellte sich heraus, dass der Attentäter ein sogenannter Incel ist, ebenso wie der Toronto-Attentäter vom April 2018, welcher mit  einer Autoattacke zehn Menschen getötet und 16 verletzt hat. Obwohl seine Tat als terroristisch eingestuft wurde, wurde er nicht deswegen angeklagt – die Anklage des 17-Jährigen wegen Terrorismus stellt somit einen Präzedenzfall dar, welcher wohl aktuelle Debatten rund um die Frage, ob Incels denn Terroristen seien, maßgeblich beeinflussen wird.

Wer oder was sind Incels? Warum ist es wichtig, sich mit ihnen zu beschäftigen, was macht ihre Ideologie so gefährlich? Und was ist angesichts der steigenden Zahl von Gewalttaten, die von Incels begangen wurden, zu tun? Das Wort Incel setzt sich aus den englischen Wörtern involuntary und celibate zusammen – Incels sind also Menschen, die ungewollt zölibatär leben und unter diesem Zustand leiden. Incels stellen eine Online-Subkultur dar, welche Teil der Manosphere ist, einem losen Online-Netzwerk mehr oder weniger antifeministischer und misogyner Männergruppen, wie beispielsweise Men‘s Rights Activists (MRAs), Pick-Up Artists oder Men Going Their Own Way. Incels haben spätestens 2014 traurige Bekanntheit erlangt, als ein 22-jähriger Mann in Isla Vista sechs Menschen tötete und dreizehn weitere verletzte – dieser Mann sollte sich als der erste selbsternannte Incel herausstellen, welcher seine Ideologie in die Tat umgesetzt hat und zum Vorbild für spätere Attentate und zum Held für viele andere Männer dieser Subkultur avancierte.

Unter demografischen Aspekten gesehen, ist die Mehrheit der Incels männlich, weiß, heterosexuell, unter 30 Jahre alt und geografisch in Nordamerika und Europa zu verorten – wobei Incels ein globales Phänomen darstellen. Sie vernetzen sich primär online und bewegen sich auf Online-Plattformen wie Reddit, Imageboards wie 4chan , von Incels selbst ins Leben gerufenen Websites oder auf vor allem zum Gaming genutzten Plattformen wie Discord oder Twitch. Die Frage, wie viele Incels es gibt, ist schwierig zu beantworten. Incel-Plattformen und –communities werden regelmäßig gesperrt, archiviert oder gelöscht, sodass insbesondere radikalere Incels zunehmend zu weniger regulierten Plattformen oder gar ins Dark Web migrieren. Wissenschaftler:innen gehen von bis zu 100.000 Incels aus, von welchen die meisten Männer sind.

Ein Großteil der Manosphere – und somit auch Incels – zählt sich zu den Vertretern der Red Pill. Diese ist eine Analogie auf jene Szene des ersten „Matrix“-Films, in der Morpheus Neo eine rote und blaue Pille anbietet. Die rote steht für „Erleuchtung“ und das Loslösen von einer falschen Realitätskonstruktion. Männer, welche die Red Pill „eingenommen“ haben, verstehen demnach, wie die Gesellschaft in Wahrheit „läuft“: Aktuell werden in der Gesellschaft Frauen bevorzugt, auf Kosten der (insbesondere unattraktiven) Männer – maßgeblich Schuld hieran hat der Feminismus. Incels beziehen sich zur Belegung ihres Weltbildes auf evolutionsbiologische und -psychologische „Wissenschaft“ und verbinden diese mit einem biologischen Determinismus. Frauen sind oberflächlich, hormongesteuert und egoistisch. Sie wollen nur mit „gut aussehenden“ Männern, den Chads, Sex haben, „durchschnittliche“ Männer suchen sie sich dann im späteren Leben, diese sollen für ihre ökonomische Sicherheit sorgen. Incels können nur Sex haben oder eine Freundin finden, wenn sie sich selbst neoliberalen Selbstoptimierungsprinzipien folgend „zurichten“, beispielsweise durch das Absolvieren von Fitnessprogrammen (Gymmaxxing) oder das Tragen teurer Kleidung (Looksmaxxing). Während redpilled Incels noch Hoffnung haben, doch noch glücklich zu werden und die Aufmerksamkeit von Frauen auf sich zu ziehen, haben blackpilled Incels aufgegeben. Die Black Pill steht somit für radikalere Ansichten und Überzeugungen als die Red Pill – die Situation ist ausweglos, das Unglück determiniert. Nicht selten scheint Suizid eine legitime Option, um dem Leidensdruck zu entkommen.

Seit dem Isla-Vista Attentat sind – je nach Zählart – mindestens 69 Menschen ermordet sowie 93 (schwer) verletzt worden. Täter waren entweder selbst deklarierte Incels oder aber (rechtsextreme) Männer, welche u.a. der Incel-Ideologie ausgesetzt waren. Insbesondere die extremeren Teile der Incel-Subkultur bieten einen gefährlichen Nährboden für die Radikalisierung vor allem junger und vulnerabler Männer. Die Echokammern der diversen Plattformen entwickeln schnell eine starke Sogwirkung, was einen Ausstieg aus diesen toxischen Räumen enorm erschweren kann.

Was also tun, angesichts der potentiell zunehmenden Bedrohung durch diese Teile der Incel-Subkultur? Aktuell wird in diversen Ländern, wie etwa Kanada, diskutiert, ob Incels bzw. die von ihnen ausgeübten Gewalttaten als Terroristen bzw. terroristisch zu charakterisieren sind. Dies hätte den Effekt, dass (tödliche) Misogynie sowie Femizide als politisches und gesamtgesellschaftliches Problem ernster genommen würden. Unter Rückgriff auf bestehendes Wissen zur Radikalisierung junger Männer zu Rechtsextremen oder Islamisten, können mögliche Interventions- oder Präventionsangebote und entsprechende Maßnahmen für Incels abgeleitet werden. Hierbei ist es vor allem wichtig, die große Heterogenität dieser Subkultur zu berücksichtigen und Incels nicht per se als eine „suspect group“ zu konstruieren – denn dies könnte wiederum das bestehende Radikalisierungspotential weiter erhöhen. Auch gilt zu bedenken, dass Radikalisierungsprozesse nicht nur im Netz stattfinden, was sie komplexer macht – es ist demnach ein umfassenderes Wissen zu Online- wie Offline-Radikalisierungsprozessen notwendig, um nachhaltige und effektive Strategien entwickeln zu können.

Frauenfeindlichkeit und -hass ziehen sich durch alle Teile der Gesellschaft und zeigen sich in der Incel-Subkultur in besonders abstoßender und unzensierter Weise. Somit muss auf die Frage „was tun?“ auch immer eine Antwort formuliert werden, die gesamtgesellschaftliche, holistische Perspektiven einschließt, um gegen die nach wie vor tief verwurzelte Misogynie vorzugehen.

Die Autorin

Brigitte Temel hat Soziologie und Gender Studies an der Universität Wien studiert und ist derzeit  als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Konfliktforschung beschäftigt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Hass im Netz, Street Harassment, Sexarbeit, Gender & Queer Studies.