Revolution an der Wahlurne in der Republik Moldau?

Es gibt sie vielleicht doch noch Revolutionen an der Wahlurne. Politische Veränderungen in Osteuropa müssen nicht immer unter Massenprotesten herbeigeführt werden, wie es dieser Tage in Weißrussland zu beobachten ist, oder vor einigen Jahren in der Ukraine, als es zu den Maidanprotesten kam. Maia Sandu, unterstützt von der Partei für Aktion und Solidarität (PAS), hat die Präsidentschaftswahlen in der Republik Moldau mit mehr als 57 Prozent der Stimmen gegen Amtsinhaber Igor Dodon, unterstützt von der Partei der Sozialist:innen (PSRM), gewonnen. Der Wahlgang am 15. November war eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidat:Innen der ersten Runde vom 1. November 2020. Welchen Stellenwert hat diese Wahl für die Transformation des Landes und was bedeutet sie für die EU und ihre Mitgliedsstaaten? Eine Analyse.

Die Stellung der Präsident:innen in der Republik Moldau

Im parlamentarischen System der Republik Moldau ist das Amt der Premierminister:innen wichtiger als das der Präsident:innen. Allerdings gibt es in der Republik Moldau die Tradition sehr politischer Präsidentschaften. Das war historisch dann der Fall, wenn sich die Präsident:innen auf eine starke Basis im Parlament stützen konnten und Identifikationsfiguren ihrer politischen Parteien blieben, deren Vorsitz sie jedoch formal abgeben mussten. Vladimir Voronin in den Jahren 2001 bis 2009 ist ein Beispiel dafür. Die Tradition der „starken“ Präsident:innen wurde durch eine Wahlrechtsreform im Jahr 2016 gefestigt, seit der die Präsident:innen direkt vom Volk gewählt werden. Bei der ersten Direktwahl nach der Reform im Jahr 2016 standen sich Igor Dodon und Maia Sandu bereits gegenüber. Damals entschied Igor Dodon mit etwa 52 Prozent der Stimmen die Wahl für sich.

Die Situation nach der Wahl

Nun darf erwartet werden, dass Maia Sandu – die seit Jahren schon die politische Identifikationsfigur der Reformbewegung ACUM ist (PAS und Platforma DA formen diese Reformbewegung) – ihr Amt wie ihr Vorgänger Dodon sehr politisch ausübt. Seit dem Bruch der Koalitionsregierung mit der Partei der Sozialist:innen im November 2019 ist ACUM in Opposition. Die derzeitige Regierung unter Premier Ion Chicu wurde de facto von Präsident Dodon eingesetzt und wird von den Sozialist:innen und der Demokratischen Partei des in Ungnade gefallenen Oligarchen Vladimir Plahotniuc unterstützt. Der Wahlsieg Maia Sandus hat folglich den positiven Effekt, dass die Präsidentschaft nun ein politisches Gegengewicht zur Regierung darstellt. Dies führte zu Rücktrittsforderungen gegen Premierminister Chicu zugunsten einer von Maia Sandu eingesetzten pro-europäischen Regierung. Das Problem dabei ist, dass ACUM und die Demokratische Partei, die eine solche Regierung stützen könnte, keine Mehrheit im Parlament haben. Igor Dodon, der sich an die Seite der Regierung Chicu stellt, hat seine Niederlage eingestanden und wird zum Vorsitz der Partei der Sozialist:innen zurückzukehren.

Kampagne und Wähler:innenstimmen

Maia Sandu stützt ihren Wahlsieg hauptsächlich auf pro-europäische Wähler:innen in der Hauptstadt Chişinău und der Diaspora. Die europäische Orientierung ist jedoch kein innenpolitisches Wahlprogramm. Maia Sandu hat daher ihre Integrität und ihre glaubwürdige Reformorientierung unter dem Slogan „oameni buni“ („gute Menschen“, gemeint sind integre Politiker:innen) in ihrer Kampagne in den Vordergrund gestellt. Igor Dodon setzte auf Themen wie sozialen Ausgleich, außenpolitische Balance und traditionelle Werte. Er präsentierte sich als jener Staatsmann, der die interethnischen Beziehungen normalisieren kann, und warnte vor der Spaltung des Landes durch die pro-europäischen Kräfte. Die Integrität Dodons scheint jedoch an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Beispielsweise ist ein von ihm verhandelter russischer Kredit, um die Folgen der Covid-19 Pandemie zu überwinden, immer noch nicht ausbezahlt. Auch brachten Medienenthüllungen Dodon in Verbindung mit dem Oligarchen Vladimir Plahotniuc und russischen Agenten.

Die große Zustimmung von 57 Prozent für Maia Sandu ist auch damit zu erklären, das Maia Sandu mit einem moderat pro-europäischen Kurs auch relativ hohe Zustimmung bei der ländlichen Bevölkerung erreichen konnte. In der Tat arbeitet PAS daran, die politische Basis der jungen Partei auch unter traditionell konservativen Wähler zu stärken. Maia Sandu selbst wird daher einen außenpolitisch balancierten Kurs fortsetzen und muss sich damit gegen radikalere Strömungen innerhalb ihrer eigenen Bewegung durchsetzen. Das Kokettieren mit rumänistischen Kräften, die eine Wiedervereinigung mit Rumänien fordern, ist in diesem Zusammenhang ein Balanceakt. Entscheidend für Sandus Wahlsieg waren die Stimmen der moldauischen Diaspora, die zu über 93 Prozent für sie votiert hat. 260.000 der insgesamt 1,6 Millionen abgegebenen Stimmen entfielen auf im Ausland lebende Moldauer:innen.

Was bedeutet die Wahl für die EU und deren Mitgliedstaaten?

Der klare Wahlsieg Maia Sandus hat starke innenpolitische Signalwirkung. Die EU und ihrer Mitgliedstaaten wissen natürlich Präsident:innen, die europäische Werte propagieren, gerne an der Macht. Allerdings wird die Auswirkung auf den EU-Integrationsprozess relativ gering bleiben, da dieser ohnehin von der Erweiterungs- und Integrationsmüdigkeit innerhalb der EU geprägt ist. Je mehr die „oameni buni“ – integre Politiker:innen – die Oberhand gewinnen, desto eher werden aber Unterstützungszahlungen fließen und kleinere Integrationsschritte (z.B. die Ausweitung der SEPA-Geldtransaktionen) folgen. Russlands Reaktion wird vom zukünftigen außenpolitischen Kurs abhängen. Es ist aber anzunehmen, dass der Wahlsieg Maia Sandus in Moskau nicht viel Aufsehen erzeugt. Vladimir Putin hat bereits seine Glückwünsche übermittelt.

Schlussfolgerungen

Wenn PAS und ACUM ihre Glaubwürdigkeit und Integrität auch gegen Einflussnahme von Oligarch:innen, gegen populistische Angriffe der Partei der Sozialist:innen sowie Denunziationen in den russisch-sprachigen Medien behalten, könnten diese Parteien Träger eines langfristigen, nachhaltig en Reformprozesses werden. Diese stille Form der Transformation stellt ein Gegenmodell zu den so genannten „Farbrevolutionen“ (z.B. Georgien und Ukraine) oder der Maidanbewegung in der Ukraine im Jahr 2014 dar. Für die Republik Moldau bedeutet dies mehr Resilienz und weniger politische Instabilität oder gar gesellschaftliche Spaltung. Für die EU gilt es weiterhin die wirtschaftlich Entwicklung des Landes mit entsprechenden Programmen zu unterstützen, wie dies im Rahmen der Östlichen Partnerschaft schon der Fall ist.

 

 

Über den Autor

Johann Wolfschwenger ist Marie Curie Doctoral Fellow an der Universié Libre de Bruxelles und der Universität Genf. Derzeit forscht er an der Universität Kopenhagen zur EU Integration osteuropäischer Länder. In seiner neuesten Publikation befasst er sich mit territorialer Autonomie im Transnistrienkonflikt in der Republik Moldau. Mehr Informationen hier.