Das Erbe der Pariser Vorortverträge 1919 und die Autokratie in Ungarn

Delegates Leaving The Palace after Sigining the Treaty of Versailles CC BY https://bit.ly/2MEbcRg

Die autokratische Politik in Ungarn und ihr Verständnis von (illiberaler) Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wurzelt in den Friedensverträgen von Paris.

Der Zivilisationsbruch des Ersten Weltkrieges führte in der Staatsrechtslehre zur Ablehnung der monarchischen Herrschaftslegitimation und zur allgemeinen Anerkennung des nationalen und des demokratischen Selbstbestimmungsprinzips. In seiner demokratischen Formulierung beruht dieses Prinzip nicht auf reiner Mehrheitsherrschaft, sondern auf der allgemeinen Würde und Freiheit aller Menschen. Die moralischen Ansprüche der Regierten an die Regierung gewannen damit an Bedeutung und der bedingte bürgerliche Gehorsam ersetzte die „Untertantreue“. Zum Gegenpol der demokratischen Selbstbestimmung avancierte nun – anstelle der monarchischen – die aggressiv-autokratische Herrschaft.

Diese neuen Prinzipien der Staatsrechtslehre bargen von Beginn an Widersprüche: Das nationale Souveränitätsprinzip wurde zum Kampfbegriff der neuen Nationalstaaten und Nationalitätenbewegungen. Ihre Anhänger plädierten vehement für die nationale Ausschließlichkeit und schenkten der allgemeinen Menschenwürde, die dem demokratischen Prinzip zugrunde liegt, keine Beachtung.

Österreich wurde 1918 eine demokratische Republik, obwohl das Land weder unabhängig noch „österreichisch“ sein wollte. Es musste ebenso wie Ungarn durch die Friedensverträge wesentliche territoriale Verluste hinnehmen und durfte den Anschluss an Deutschland nicht vollziehen. Die „Zwangsfreiheit“ hatte zur Folge, dass eine nationale Identität weitgehend fehlte und die Republik als ein provisorisches Konstrukt angesehen wurde. Die Stabilisierung einer eigenen österreichischen Identität erfolgte erst lange nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, ab den 1970-er Jahren, verbunden mit einer nostalgischen Erinnerung an das Erbe der Habsburgermonarchie vor 1918.

Im Gegensatz zu Österreich sehnten sich die Ungarn schon seit vielen Jahrhunderten vor 1918 nach der Unabhängigkeit. Diese hätte auf Grund der historischen Verfassung Ungarns ein Königreich bedeutet, mit territorialen Ansprüchen auf das frühere Staatsgebiet und gegründet auf monarchische Legitimität. Das Prinzip der demokratischen Selbstbestimmung galt für die ungarische Herrscherklasse als Tabu, weil die ethnischen Bevölkerungsgruppen im Herrschaftsgebiet des früheren ungarischen Königreichs ihre Ansprüche unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht formulierten. In die Geschichte eingegangen ist das Jahr 1919 als das Jahr der politischen Gewalt und der nationalen Demütigung. Auf die Räterepublik folgte der „rote“, dann der „weiße“ Terror, während die Rumän*innen in die ungarische Hauptstadt einmarschierten. Für die alten Eliten, die ihre Macht zurückgewonnen hatten, blieb das moralische Vokabular der demokratischen Selbstbestimmung verpönt. Gleichzeitig wurde die Restauration, d.h. die Wiederherstellung des früheren ungarischen Königreichs zum politischen Programm. Der Anspruch auf einen unabhängigen ungarischen Staat wurde bis 1989 stets so formuliert, dass der Respekt vor der demokratischen Verfassung kaum Erwähnung fand. Dies kehrt in der ungarischen Politik wie ein Gespenst bis zum heutigen Tag zurück.

Die autokratischen Tendenzen, die in Ungarn nach 2010 die Oberhand gewannen, speisen sich aus diesen verdrängten Traditionen und führten zum Untergang der dritten Republik, die in der ungarischen Verfassungsgeschichte die am längsten währende freiheitlich-demokratische Grundordnung darstellte. Der Anspruch auf die öffentliche Legitimation ist jedoch die Achillesferse jeder Autokratie. Im Zeitalter des säkularen Konstitutionalismus beruht diese Legitimation auf dem demokratischen Selbstbestimmungsprinzip, d.h. auf dem Volkssouveränitätsprinzip. Autokratien lassen die normativen Anforderungen dieses Grundsatzes zwangsläufig außer Acht, aber sie können dies nicht zugeben, weil sie wenigstens den Schein der Legitimation durch die Öffentlichkeit aufrechterhalten wollen. So inszenieren sich Autokratien lieber als alternative Demokratien. Der Dialog mit den europäischen Einrichtungen  zur Förderung und Sicherstellung der Rechtsstaatlichkeit ist deshalb besonders heikel, weil er die ungarische Regierung stets mit ihrer mangelnden demokratischen Legitimation konfrontiert.

Dem 100-jährigen Jubiläum der Pariser Friedensverträge 1919 war im Oktober 2019 eine Konferenz gewidmet, an der das Junge Forum der Österreichischen Juristenkommission mit Vorträgen zum Erbe des Staatsvertrages von Saint Germain aus österreichischer Perspektive mitgewirkt hat.

 

DER AUTOR

Péter Sólyom ist Associate Professor an der Universität Debrecen. Er forscht vor allem zu Verfassungstheorie und Rechtstheorie.