Die unterschätzten symbolisch-visuellen Grundlagen der Demokratie

Verhüllung Reichstag 1995
Bild: https://www.flickr.com/photos/mr172/4069550750

Immer wieder wird als ein zentrales Problem gegenwärtiger Demokratien benannt, dass ihre Politik zu einem reinen Medienspektakel verkommen sei, in dem die eigentlichen Inhalte einer simplen und nichtssagenden Flut aus Bildern und Symbolen weichen würden (vgl. Habermas 1995: 300-301; Crouch 2000: 10; Voss 2018: 53-54). Dieser Auffassung widersprechend, möchte folgender Blogbeitrag zunächst die vielfach unterschätzten visuell-symbolischen Grundlagen der Demokratie vorstellen, um sodann ihre zentrale Rolle für die Repräsentation und Zukunft demokratischer Gesellschaften aufzuzeigen und daraus konkrete Handlungsempfehlungen für die Politik abzuleiten.

Mehr als Austausch von Argumenten

Will man Demokratie als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform (vgl. Himmelmann 2001) auf einer symbolisch-visuellen Ebene begreifen, so muss man sich zunächst vor Augen führen und verstehen, dass Politik im Allgemeinen und Demokratie im Speziellen nicht nur aus einem Austausch von Argumenten und ‚inhaltlichen’ Interessen, aus rationalen Theorien, Diskursen und Entscheidungen besteht (vgl. Diehl 2015: 347). Vielmehr vollzieht und konstituiert sich Demokratie immer auch „in Bildern, in Ritualen, in Verkörperungen, in Räumen, [und] in Rhetoriken“, wie schon Hans Vorderländer (2003: 11) vor knapp 15 Jahren unter anderem an Fernseh- und Parlamentsdebatten aufgezeigt hat. Demokratie besteht und beruht also ganz wesentlich auch auf einer ästhetischen und symbolisch-visuellen Komponente, die nicht unterschätzt werden darf. Neben der bereits erwähnten medial-alltäglichen Berichterstattung umfasst diese Komponente auch Momente wie die Verhüllung des deutschen Reichstagsgebäudes im Sommer 1995. Das Kunstprojekt symbolisierte den historischen Neuanfang des deutschen Bundestags nach der Wende – Millionen von BesucherInnen versammelten sich um das Gebäude und konnten die neue, demokratische Gesellschaft leibhaftig sehen und spüren (vgl. Deichmann 2007; Cullen 20.06.2015).

Wesentlich für ein tiefergehendes Verständnis ist es zudem, die Ästhetik der Demokratie in einen expressiven, d.h. ausdrückenden und einen konstitutiven, d.h. grundlegenden Teil zu unterscheiden (Vorderländer 2003: 15). Nur so kann man die symbolisch-visuelle Dimension der Demokratie angemessen verstehen. Konkret gemeint ist hiermit, dass ein Bild oder Ritual einerseits dahingehend begriffen werden kann, dass es Demokratie über spezifische Symbole oder Abläufe expressiv vermittelt, d.h. zum Ausdruck bringt. Andererseits können und sollten ebendiese Elemente aber auch so verstanden werden, dass sie Demokratie überhaupt erst konstituieren, d.h. begründen und konstruieren, da vor allem sie es sind, die Demokratie für ihre Mitglieder sinnlich erfahrbar und vorstellbar machen.

Beispielsweise kann das Social-Media Foto einer Parlamentsabgeordneten am RednerInnenpult als bestimmte Art und Weise begriffen werden, das abstrakte Konzept Demokratie alltagsnah zum Ausdruck zu bringen. Der demokratische Prozess wird dabei über den fotografisch festgehaltenen Moment der Rede, über ausdrucksstarke Mimik, Gestik, Kleidung etc. sinnbildlich, d.h. symbolisch vermittelt. Gleichzeitig und andererseits ist dieses Foto aber auch dahingehend zu verstehen, dass es für viele BürgerInnen Demokratie überhaupt erst begründet. Durch das Foto wird Demokratie als ein Prozess des geregelten Debattierens und Argumentierens erfahren und vorgestellt. Damit verbunden geraten aber auch andere Aspekte von Demokratie im wörtlichen Sinn aus dem Blick. Die Fotografie einer Demonstration mit der Überschrift „Das ist Demokratie“ würde wahrscheinlich andere Auffassungen davon hervorrufen, worin der demokratische Prozess besteht – das Foto legt somit zugrunde, was Demokratie überhaupt ist bzw. sein kann.

Repräsentation und Zukunft

Mit diesem erweiterten Verständnis von Demokratie wird deutlich, dass demokratische Politik und Gesellschaft nicht ohne Bilder und Symbole auskommen kann. Denn erstens muss sich die sogenannte ‚hohe Politik’ auf der einen Seite im Sinne einer symbolisch-visuellen Repräsentation inszenieren bzw. darstellen, um auf der anderen Seite – jener der BürgerInnen – über genau diese Repräsentation wahrgenommen und vorgestellt, d.h. symbolisch-visuell re-präsentiert zu werden (vgl. Diehl 2015: 41-91). Zweitens müssen zudem Möglichkeiten für symbolisch-visuelle Vorstellungen einer (zukünftigen) demokratischen Gesellschaft geschaffen werden, da ohne solche Visionen der Glaube an und die Hoffnung in die Demokratie schnell verloren gehen.

Konkret heißt dies: Nur wenn PolitikerInnen auch Rituale in den (Bild)Medien abhalten, wird ihr Handeln und damit die politische Ordnung der Demokratie für die BürgerInnen sinnlich erfahrbar und kann in den Köpfen verankert werden. Nur wenn es demokratische Utopien gibt, ist die (Zukunft der) Demokratie gesichert.

Symbolisch-visuelle Bildung und Vorstellungsvermögen als Grundlagen

Zuallererst benötigt es somit für das Funktionieren einer demokratischen Repräsentation und Gesellschaft insbesondere auch die Mündigkeit der BürgerInnen. Sie müssen die visuell-symbolische Dimension angemessen, d.h. in eigenständig-kritischer Auseinandersetzung, verstehen bzw. deuten und sich eine (zukünftige) demokratische Gesellschaft vorstellen können. Fehlt eine dieser beiden Komponenten, so kann es durchaus zu einer Krise der demokratischen Repräsentation kommen (vgl. Diehl 2015: 106-115, 364-367). BürgerInnen identifizieren sich dann nicht mehr mit dem demokratischen System und werden politikverdrossen, weil sie die Anbindung an die ‚hohe Politik‘ verlieren und sich eine (zukünftige) demokratische Gesellschaft nicht mehr symbolisch-visuell vorstellen können.

Ein historisches Beispiel dafür bildet die verfehlte Bildpolitik Friedrich Eberts. Im Gegensatz zu George Washington verabsäumte es dieser, sich gezielt über Bilder und Fotografien als vereinende Gründungsfigur der sich im Umbruch befindenden deutschen Gesellschaft, zu inszenieren und damit Vorstellungen einer neuen Ordnung zu ermöglichen (vgl. Depkat 2011). Doch auch ganz aktuell zeigte sich etwa in Frankreich eine Krise der demokratischen Repräsentation, die letztendlich in die Proteste der Gelbwesten mündete. Schon lange vor den Protesten galt Emmanuel Macron unter anderem aufgrund seiner pompösen Inszenierungen (selbst in der deutschen Bild Zeitung) als abgehoben und arrogant (vgl. Fabian 09.07.2018); ein Foto mit einem jungen Schwarzen, der den Mittelfinger in die Kamera zeigt, verärgerte zudem wenig später Frankreichs Rechte nochmals massiv (vgl. Die Presse 01.10.2018). Die Verdrossenheit machte sich zunächst in niedrigen Umfragewerten deutlich und fand sodann ihren wiederum symbolischen Höhepunkt mit dem Beschmieren des Pariser Wahrzeichens Arc de Triomphe.

Insbesondere auch deshalb spielt also die symbolisch-visuelle Ebene eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Demokratie. Sie entscheidet darüber, ob und wie Demokratie in der Gesellschaft erfahren, beurteilt und vorgestellt wird und, darauf aufbauend, ob und wie (in Zukunft) demokratisch gehandelt werden soll (vgl. Friedrichs 2018).

Empfehlungen

Was können politische Stakeholder also tun, um eine Krise der Repräsentation zu vermeiden und eine demokratische Gesellschaft auch in Zukunft zu erhalten?

  • Erstens müssen PolitikerInnen verstehen, dass ihr Handeln immer auch symbolisch und visuell vermittelt werden muss – diese Dimension ist bewusst zu reflektieren und einzusetzen.
  • Zweitens benötigt es eine symbolisch-visuelle politische Bildung, sodass BürgerInnen die politische Repräsentation auch auf dieser Dimension mündig erfassen können.
  • Drittens muss Politik ihren BürgerInnen Möglichkeitsräume für (konkrete) Vorstellungen einer (zukünftigen) demokratischen Gesellschaft schaffen – gerade in den gegenwärtig unsicheren Zeiten braucht es Utopien, ‚Vor-Bilder‘ und Visionen einer besseren Gesellschaft.

Literatur/ Quellen:

Crouch, Colin (2008): Postdemokratie; Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Cullen, Michael S. (20.06.2015): Verhüllung des Reichtags. Dieses erste deutsche Sommermärchen; (04.02.2019) https://www.tagesspiegel.de/kultur/verhuellung-des-reichstags-endlich-ist-die-situation-guenstig/11945224-3.html.

Deichmann, Carl (2007): Symbolische Politik und politische Symbole. Dimensionen politischer Kultur; Schwalbach/Ts.:Wochenschau Verlag.

Depkat, Volker (2011): The Grammar of Postrevolutionary Visual Politics:

Comparing Presidential Stances of George Washington and Friedrich Ebert; in: Hebel, Udo J./ Wagner, Christoph (Hg.): Pictorial Cultures and Political Iconographies; Berlin/NewYork: Walter DeGruyter; 177-198.

Diehl, Paula (2015): Das Symbolische, das Imaginäre und die Demokratie. Eine Theorie politischer Repräsentation; in: Arato, Andrew/ Brunkhorst, Hauke/ Kreide, Regina (Hg.Innen): Studien zur Politischen Soziologie; Band 34; Baden-Baden: Nomos.

Die Presse (01.10.2018): Junger Mann zeigt bei Foto mit Macron den Stinkefinger; (04.02.2019) https://diepresse.com/home/ausland/welt/5505555/Junger-Mann-zeigt-bei-Foto-mit-Macron-den-Stinkefinger.

Fabian, Philip (09.07.2018): Schlecht Umfragewerte, aber … Macron lobt sich selbst; (04.02.2019) https://www.bild.de/politik/ausland/emmanuel-macron/macron-rede-zur-lage-der-nation-56262932.bild.html.

Friedrichs, Werner (2018): Das demokratische Imaginäre als Ausgangspunkt der Demokratiebildung; in: Kenner, Steve/ Lange, Dirk (Hg.) (2018): Citizenship Education. Konzepte, Anregungen und Ideen zur Demokratiebildung; Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag; 60-71.

Habermas, Jürgen (1995): Kants Idee des Ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von 200 Jahren; in: Kritische Justiz; 28 (3); 293-319.

Himmelmann, Gerhard (2001): Demokratie lernen. Als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform. Ein Lehr- und Arbeitsbuch; Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.

Hofmann, Wilhelm (2004): Die politische Kultur des Auges. Der pictorial turn als Aspekt des cultural turn in der Politikwissenschaft; in: Schwelling, Birgit: Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen; Wiesbaden: Springer VS; 309-334.

Vorderländer, Hans (Hg.) (2003): Zur Ästhetik der Demokratie. Formen der politischen Selbstdarstellung; Stuttgart/München: Deutsche Verlags-Anstalt GmbH.

Voss, Christiane (2018): Zwischen Vor- und Nachbild: Mimetische Migrationen der Illusion; in: Frisch, Simon/ Fritz, Elisabeth/ Rita, Rieger: Spektakel als ästhetische Kategorie: Theorien und Praktiken; Paderborn: Wilhelm Fink; 53-54.

 

Der AUTOR

Tobias Doppelbauer, BA (geb. 1994) ist Politikwissenschaftler, studiert derzeit im Zweitstudium Philosophie, und arbeitet als Studienassistent sowie wissenschaftlicher Projektmitarbeiter am Arbeitsbereich Didaktik der politischen Bildung der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen: Subjektive Vorstellungen und visuelle Dimensionen der Demokratie, Staat(lichkeit), Macht:Wissen, Theorien der Gemeinschaft, sowie Visuelle Methoden der qualitativen empirischen Sozialforschung. Zuletzt schrieb er seine Bachelorarbeit „Demokratie sehen, deuten, verstehen: Mögliche Herangehensweisen und Methoden zur Erforschung von sprachlich-bildlichen Demokratievorstellungen am Beispiel Wiener Jugendlicher“. Er freut sich über Anregungen, Kommentare und Kritik an tobias.doppelbauer@gmx.at.