
Am 24. November trafen sich die EU Staats- und Regierungschefs zum Gipfel der Östlichen Partnerschaft in Brüssel, um eine gemeinsame Erklärung zu verabschieden. Das diesjährige Abschlussdokument bestätigt im Wesentlichen den Kurs der letzten Jahre. Wichtigste Neuerung ist die Formulierung von 20 deliverables, die zur Konkretisierung der Schwerpunktbereiche beitragen sollen, die bereits beim letzten Gipfel in Riga im Jahr 2015 vereinbart wurden. Von größerer Tragweite war die 2015 unternommene Revision der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP), in der die Östliche Partnerschaft (EaP) einem eher pragmatischen Politikansatz unterstellt wurde, der sie von einem erweiterungs- oder integrationspolitischen Ansatz in Richtung reiner Außenpolitik rückte. Auch dieses Jahr gab es im Vorfeld des Gipfels Uneinigkeit, wieviel Außenpolitik und wieviel Erweiterungspolitik in der Östlichen Partnerschaft steckt. Während sich einige Mitgliedstaaten der EU klar gegen eine Beitrittsperspektive bzw. ambitionierte Integration aussprechen, hat sich das Europäische Parlament vor Kurzem mit einem ‚EaP+‘-Modell positioniert. Demnach sollte den Staaten mit beträchtlichen Fortschritten, wie die Ukraine, Georgien und die Republik Moldau, die Aufnahme in die europäische Zollunion, Energieunion und den Schengen-Raum in Aussicht gestellt werden. Gerade mit Blick auf den komplexen regionalen Kontext ist die Frage nach einem außen- oder erweiterungspolitischen Ansatz relevant, denn sie definiert, nach welcher Logik die Östliche Partnerschaft ihre Wirkung entfaltet und nach welchen Maßstäben ihr Erfolg gemessen wird.
Zwischen Außen- und Erweiterungspolitik
Während die Beziehungen zu den südlichen Nachbarn der MENA-Region aus dem Barcelona Prozess hervorgehen, der in erster Linie die wirtschaftlichen Beziehungen regeln sollte, hat im Osten der EU die Erweiterungspolitik über viele Jahre hinweg die Beziehungen zu den Nachbarstaaten definiert. Ein wesentlicher Unterschied ist, dass die Erweiterungslogik eine Angleichung an die EU-Standards durch die schrittweise Übernahme von Werten, Normen und Praktiken – in Summe, die Annahme einer ‚europäischen Identität‘ – vorsieht. In Sachen Außenpolitik hingegen stehen Interessen wie politische Stabilität, Sicherheit oder wirtschaftliche Interessen der EU gegenüber den Partnerregionen oder Partnerländern im Vordergrund. Im Kern geht es darum, ob die EU mit der Nachbarschaftspolitik Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen verfolgt und Werte wie Demokratie, Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit als Mittel zum Zweck ansieht, oder ob die Durchsetzung von Werten, auf denen sich die EU gründet, auch den inhaltlichen Maßstab für die Nachbarschaftspolitik definieren (vgl. Kostanyan 2017, 39-56).
Die Östliche Partnerschaft auf dem Boden der Tatsachen
Die politischen Ereignisse in den Nachbarländern in den vergangenen Jahren, allen voran die Ukraine-Krise, zeigten, dass innenpolitische Dynamiken und die Rolle von externen Akteuren Faktoren sind, durch welche sich die Rahmenbedingungen, in denen die Östliche Partnerschaft operiert, stark von den Rahmenbedingungen der Erweiterungspolitik unterscheiden.
Erstens fehlen in vielen Nachbarstaaten verlässliche politische Kräfte, die einen Reformprozess im Sinne europäischer Werte vorantreiben: Während sich viele politische Akteure das Label ‚pro-europäisch‘ gerne aus innenpolitischem Kalkül anheften, ist die zu schließende Lücke zwischen jenen Werten und Praktiken, die die EU einfordert, und der politischen Praxis immer noch groß. Als weiterer Faktor kommt hinzu, dass ein zunehmender Kampf um Einfluss seitens Russlands und der EU, eine verstärkte Polarisierung des innenpolitischen Diskurses nach sich zieht. Die Frage nach der außenpolitischen Positionierung der politischen Akteure in den Ländern der Östlichen Partnerschaft führt zunehmend zu überdauernden ideologischen, linguistischen und teilweise auch ethnischen Konfliktlinien. Eine deutliche Hinwendung zur europäischen Identität wird nur von einem Teil der Bevölkerung getragen, während ein anderer Teil sich – oft sowjet-nostalgischen und russischen Medien ausgesetzt – Russland zuwendet (siehe Grafik sowie Umfragen in der Republik Moldau, Seite 65, und Ukraine, Seite 50). Die Sprengkraft dieser Polarisierung lässt sich beispielsweise an der heftigen Kontroverse, die in der Ukraine durch das Ablehnen der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens durch Präsident Janukowytsch aufgeflammt ist, ablesen. Auch in der Republik Moldau laufen die pro-westliche Orientierung des Premierministers und die pro-russische Orientierung des Präsidenten Gefahr, eine Staatskrise auszulösen. So sind zwischen Premierminister Pavel Filip und Präsident Igor Dodon einige heftige Kontroversen über die außenpolitische Orientierung des Landes im Gange, beispielsweise über die Zusammenarbeit mit der NATO und der Neuverhandlung des Assoziierungsabkommens.
Neben den innenpolitischen Umständen ist die Rolle externer Akteure ein sehr viel relevanterer Faktor als dies im Erweiterungsprozess der Fall war. So ist die Rolle der Nachbarschaftspolitik in den Beziehungen zu Russland und umgekehrt, die Rolle Russlands in der Europäischen Nachbarschaftspolitik, unklar. Während die ENP offiziell als gegen niemanden gerichtet tituliert ist, äußert Moskau seit Jahren Bedenken, die EU würde russischen Interessen in der unmittelbaren Nachbarschaft schaden. Gerade vor dem Hintergrund der offensichtlichen Parallelität der EU und NATO-Osterweiterung, die seitens Moskau als Sicherheitsbedrohung aufgefasst wird, tragen diese Entwicklungen zu Spannungen bei. Andererseits ist sich die EU sowohl auf Expertenebene, als auch auf politischer Ebene uneins, welche Rolle Russland in der Ukraine-Krise gespielt hat. Während einige argumentieren, Russlands genuiner Aggressivität kann nur durch ein starkes Bekenntnis zur Westintegration Einhalt geboten werden, sehen andere die ENP als einen Teil einer westlichen Eingrenzungspolitik, die eine nationalistische und unter Umständen aggressive Außenpolitik Russlands hervorruft (MacFarlane 2014, Rynning 2015, Mearsheimer 2014) und folglich äußerst destruktiv für Stabilität und Frieden in der Nachbarschaft ist. Die ENP Revision von 2015 jedenfalls, handelt die Rolle Russland für die Östliche Partnerschaft in einem lediglich 5-zeiligen Absatz auf Seite 19 ab.
Conclusio und Empfehlungen
Im Rahmen des diesjährigen Gipfels der Östlichen Partnerschaft in Brüssel, sollten sich die Verhandlungsführer im Klaren sein, dass ein Mehr an Integration und Kooperation nicht automatisch ein Mehr an Stabilität, Frieden und Demokratie bringt. Entscheidend ist die Wirkung der Östlichen Partnerschaft unter Berücksichtigung des regionalen politischen und innenpolitischen Kontexts, die etwaige ungewollte Effekte ebenfalls einschließt. Eine erneute und grundlegendere Revision scheint daher unumgänglich.
- Die EU sollte die Östliche Partnerschaft nicht nur als den Rahmen für die Beziehungen mit den Nachbarstaaten betrachten, sondern einen umfassenderen, regionalen Ansatz forcieren. Dies erfordert, die Östliche Partnerschaft in die regionale, GASP-geleitete Sicherheitsstrategie einzubetten. Dazu ist die Erarbeitung einer Strategie gegenüber den ‚Nachbarn der Nachbarn‘ notwendig, wenn diese Autokratien sind. Die derzeitige Debatte um eine Sicherheits- und Verteidigungsunion bietet die notwendige Bühne dafür.
- Während regionale Kooperation noch ein Kernthema der EU Politik gegenüber den Balkanländern war, ist die Nachbarschaftspolitik weitgehend frei von solchen Überlegungen. Die EU sollte daher definieren, inwieweit sie regionale Kooperation innerhalb der Länder der Östlichen Partnerschaft aber auch mit Russland unterstützt, bzw. wo rote Linien liegen. Die EU hat im Vorfeld der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zwar Gespräche mit Moskau geführt, diese sind aber ohne Ergebnis geblieben. Ein ‚strukturierter Dialog‘ mit Moskau, sei es im Rahmen der OSZE, wie vom ehemaligen deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier vorgeschlagen, oder direkt zwischen Brüssel und Moskau, ist nicht nur für einzelne Mitgliedsstaaten, sondern für die gesamte EU und ihre Interessen in der Nachbarschaft von großer Bedeutung. In diesem Zusammenhang sollten Kritiker eines Dialogs beachten, dass ein kooperativer Ansatz zwischen Russland und der EU, beispielsweise im Bereich der wirtschaftlichen Kooperation (Stichwort Kompatibilität zwischen Eurasischer Zollunion und Vertiefter und umfassender Freihandelszone) und eine stabile regionale Sicherheitsarchitektur durchaus im Interesse der Länder der Nachbarschaft ist. Angesichts einer gesprächsbereiten Haltung einiger EU Mitgliedstaaten (z.B. Deutschland, Österreich, Italien) hat die EU ihren innenpolitischen Spielraum noch nicht ausgeschöpft.
- Die EU sollte stärkere Differenzierung erlauben – nicht nur mit Blick auf die Unterschiede in den Partnerländern, sondern innerhalb der Politikbereiche. Konkret heißt das, ein umfassendes (ca. 800-seitiges) Assoziierungsabkommen, das eine vertiefte und umfassende Freihandelszone (DCFTA) direkt an andere Politikbereiche wie Sicherheit, Demokratie, Soziales etc. koppelt, aufzuspalten und die einzelnen Bereiche separat zu verhandeln. Damit könnten einzelne Staaten gemäß ihrer Interessenlage in einigen Politikbereichen zwischen Russland und der EU verstärkt ausbalancieren, was zu einer Entspannung der innenpolitischen Polarisierung beiträgt.
Bibliographie:
- Kostanyan, Hrant. 2017. Assessing European Neighborhood Policy. Perspectives from the Literature. London: Rowman & Littlefield.
- MacFarlane, Neil; Menon, Anand. 2014. The EU and Ukraine. Survival 56 (3):95-101.
- Mearsheimer, John J. 2014. Why the Ukraine Crisis is the West’s Fault. The Liberal Delusions That Provoked Putin. Foreign Affairs September/October 2014:77-89.
- Rynning, Sten. 2015. The false promise of continental concert: Russia, the West and the necessary balance of power. International Affairs 91 (3):539-552.
Über den Autor:
Johann Wolfschwenger ist Marie Curie Doctoral Fellow and der Universié Libe de Bruxelles und der Université de Genève. In seiner Dissertation befasst er sich mit der Polarisierung des innenpolitischen Diskurses in der Republik Moldau, als Folge der zunehmend konfliktbeladenen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen.